2020 war ein Jahr wie kein anderes. Die Corona‑Pandemie stellt weltweit Regierungen und Gesellschaften vor grosse Herausforderungen. Selten hat ein Thema alle Bereiche des Lebens so dominiert wie die Corona-Krise. Gleichzeitig hat uns die Pandemie die Bedeutsamkeit der Menschenrechte in unserem alltäglichen Leben aufgezeigt, auch in der Schweiz.
Relevanz der Menschenrechte vor Augen geführt
Die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie stellten teils schwere Einschränkungen menschenrechtlich garantierter Freiheiten dar, wie z.B. der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit oder auch des Rechts auf politische Partizipation. Über diese Eingriffe in die Grund- und Menschenrechte und ihre Verhältnismässigkeit wurde auch in der Politik kontrovers diskutiert. Dies vor allem mit Blick darauf, die Massnahmen von Bund und Kantonen, die das Ansteckungsrisiko vermindern sollen, zu begrenzen.
«Aus den Menschenrechten auf Leben und Gesundheit leitet sich die Pflicht des Staates ab, die Gesundheit möglichst aller Personen gleichermassen zu schützen.»
Weniger zur Sprache kamen hingegen die Schutzpflichten und Gewährleistungspflichten des Staates. So leitet sich aus den zentralen Menschenrechten auf Leben und Gesundheit auch eine Pflicht des Staates ab, die Gesundheit möglichst aller Personen gleichermassen zu schützen und dafür die erforderliche Gesundheitsinfrastruktur bereitzustellen. Zwar dürfen zur Erreichung dieses Ziels die Freiheitsrechte nicht unverhältnismässig eingeschränkt werden. Trotzdem sind aber Bund und Kantone dazu angehalten, effektive Massnahmen zu ergreifen, um pandemiebedingte Todesfälle und Gesundheitsschäden so weit wie möglich zu verhindern.
Föderalismus in der Pandemie‑Bekämpfung
Die Corona‑Pandemie entfachte auch eine Debatte über die Kompetenzen von Bund und Kantonen in der Krise. Dieser Frage widmet sich der diesjährige Jahresbericht im Interview mit Prof. Eva Maria Belser, Themenbereichsleiterin Institutionelle Fragen und Mitglied der Swiss National COVID‑19 Science Task Force. Sie unterstreicht die Bedeutung der Aufarbeitung des Geschehenen aus Sicht der Demokratie, des Föderalismus und der Grundrechte. Für eine langandauernde Krise – so ihre Schlussfolgerung – ist das Schweizer System zu wenig vorbereitet.
Auswirkungen der Krise auf besonders Verletzliche
Ein weiterer Beitrag in diesem Jahresbericht widmet sich den Auswirkungen der Corona‑Krise auf Arbeitsmigrant*innen, eine besonders verletzliche Gruppe. Ihre Arbeit galt plötzlich entweder als systemrelevant, z.B. im Gesundheitswesen oder in der Transportbranche, oder aber sie verloren ihre Arbeit bzw. konnten ihre Tätigkeit wegen des Lockdowns nicht weiter ausüben. Letzteres betraf insbesondere Personen, die im informellen Sektor tätig sind oder über keine gültige Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz verfügen.
Stagnation bei der Schaffung einer Nationalen Menschenrechtsinstitution (NMRI) in der Schweiz
Es ist nachvollziehbar, dass in diesem herausfordernden Jahr die politischen Geschäfte neu priorisiert werden mussten. Die Botschaft zur Schaffung einer NMRI, die der Bundesrat im Dezember 2019 verabschiedet hatte, wurde auch deswegen erst im Herbst 2020 bei der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates (APK-S) traktandiert. Das Ergebnis der Beratung wurde im Januar 2021 kommuniziert. Die APK-S sah weiteren Abklärungsbedarf und forderte von der Staatspolitischen Kommission des Ständerates (SPK-S) einen Mitbericht ein. Dieser Mitbericht sollte sich mit der Kompatibilität zwischen einer NMRI und den Kompetenzen der Kantone auseinandersetzen. Ausserdem sollte er aufzeigen, wie die NMRI in das Schweizer Staatssystem passen würde, falls ihr eine Überwachungsfunktion zukommen sollte. Die SPK-S kam im März 2021 zum Schluss, dass die Institution keine Überwachungsaufgaben übernehmen soll. Dies um die Zuständigkeit der NMRI nicht zu überdehnen und um kantonale Zuständigkeiten zu wahren.
Missverstandene Monitoringfunktion der NMRI
Seit Beginn der Debatte über die Schaffung einer NMRI hat die Frage nach einer Überwachungsfunktion zu Kontroversen geführt und gezeigt, dass mit dem Begriff der «Überwachung» Missverständnisse verbunden sind. Einer NMRI kommen keine hoheitlichen Befugnisse zu. Sie nimmt keine Verwaltungsaufgaben war und kann in keiner Weise staatlich oder gerichtlich tätig werden und keine Behörde zur Berichterstattung verpflichten. Die Vorlage des Bundesrats schliesst auch eine Ombudsfunktion für die NMRI aus. Übrig bleibt damit das «Monitoring» der Menschenrechtslage (das eigentlich besser als «Beobachtung» anstatt «Überwachung» übersetzt werden sollte), welches bereits in früheren Diskussionen zur NMRI immer wieder Widerstand ausgelöst hatte.
«Es stellt sich die Frage, wie eine Institution mit einer so verstandenen Monitoringfunktion, die überdies die zentrale Aufgabe aller NMRIs ist, überhaupt ein Fremdkörper im Schweizer Staatssystem und ein Störfaktor für den Föderalismus sein kann.»
Dabei geht oft Folgendes vergessen: Jede Person kann mit öffentlich zugänglichen Daten die Menschenrechtslage in der Schweiz «überwachen» bzw. «beobachten». NGOs, Vereine oder private Institutionen überwachen für ihre Tätigkeitsberichte regelmässig die Entwicklungen der Menschenrechte in der Schweiz. Das Monitoring einer NMRI ist nicht anders ausgestaltet. Zwar kann den Befunden einer NMRI ein grösseres Gewicht zukommen als denen von NGOs, aber trotzdem bleiben sie unverbindlich und ohne staatliche Autorität. Es stellt sich die Frage, wie eine Institution mit einer so verstandenen Monitoringfunktion, die überdies die zentrale Aufgabe aller NMRIs ist, überhaupt ein Fremdkörper im Schweizer Staatssystem und ein Störfaktor für den Föderalismus sein kann.
Anders als der Begriff «Monitoring» hat die Aufgabe der «Dokumentation» der Menschenrechtslage keine Bedenken ausgelöst. Dass die Grenzen zwischen Dokumentation und Monitoring allerdings fliessend sind, liegt auf der Hand: Auch eine Dokumentation macht nur Sinn, wenn daraus Schlussfolgerungen gezogen werden. Gemäss den Pariser Prinzipen gehört das Monitoring im eigenen Land denn auch zu den Kernaufgaben jeder NRMI. Einer Institution, welche die Menschenrechtslage nicht beobachten und kommentieren darf, fehlt die Grundlage, um eigenständig tätig zu werden. Entsprechend ist diese Kompetenz einer künftigen NMRI in der Schweiz klar gesetzlich festzuhalten. Ansonsten wird die NMRI nicht den Pariser Prinzipen entsprechen.
Es ist zu hoffen, dass die begrifflichen Missverständnisse in den anstehenden Diskussionen geklärt werden. Falls es noch weiteren zusätzlichen Diskussionsbedarf gibt, wird eine nahtlose Übergabe zwischen SKMR und NMRI allerdings zunehmend unwahrscheinlich, da das SKMR Ende 2022 die Arbeit niederlegt.
Start für die Schlussphase des SKMR
Der Fokus für das SKMR liegt nun auf dem Schlussprojekt. In den letzten zwei Jahren beabsichtigt das SKMR sich nochmal mit neuen Themen zu befassen: In einem zukunftsgerichteten Projekt sollen für zentrale Menschenrechtsthemen praktische Lösungen aufgezeigt und Empfehlungen an Politik, Behörden und die Zivilgesellschaft formuliert werden. Der Ausblick dieses Jahresberichts fasst die geplanten Projekte zusammen.
Wir wünschen Ihnen eine angenehme und informative Lektüre
Jörg Künzli (Direktor) und Evelyne Sturm (Geschäftsführerin)
Jörg Künzli, Direktor, und Evelyne Sturm, Geschäftsführerin des SKMR, vor der Corona-Krise (Bild: SKMR)